Singet dem Herrn ein neues Lied
Unübersehbar ist das von Motette zu Motette zuneh-
mende Gewicht des Chorals: Im ersten Stück fehlt
der Choral ganz, denn der Stand der Heiden ist noch
der Zustand der Gottesferne.
Dann folgt ein verschleiert eingeflochtener Choral.
Die Gebetsmotette lässt formal den Standard-Schluss-
choral erahnen, der dann im folgenden Stück erstmals
angebracht wird.
Die fünfte (und daher fünfstimmige!) Motette bringt
Choralvariationen. Diese Verdichtung fast zur Choral-
partita lässt sich nur noch qualitativ steigern:
Bach bringt eine auf immerhin 59 Takte ausgeweitete
Choralstrophe „Wie sich ein Vat´r erbarmet“ an. Einer
der Chöre führt die Melodie zeilenweise durch, der
andere singt ariosohafte Zwischenstücke. Am Ende
dieser langen Choralstrophe gibt Bach die Anweisung:
„Der 2. Versus ist wie der erste, nur dass die Chöre
ümwechseln, nur das erste Chor den Choral, das andre
die Aria singe.“ Wäre hiermit eine andere Strophe
gemeint, so hätte diese benannt werden müssen,
denn erklungen ist die 3. Strophe des Liedes „Nun lob,
mein Seel, den Herren.“ Zwar legen viele Interpreten
Wert auf historische Aufführungspraxis, aber Bachs
klare Anweisung wird fast nie beachtet. Der ganze
lange Choral soll deckungsgleich noch einmal gesun-
gen werden, jedoch mit vertauschten Rollen. Es ist,
als spräche der erste (Ältere) zum zweiten (Jüngeren)
Chor: "Gib mir deinen Choral, ich gebe dir dafür meine
Aria." Hier vollzieht sich die Integration des Alten und
des Neuen Bundesvolks. Die Heiden haben Zugang
zur Gottesgemeinschaft, und Israel gehört zur
Gemeinde des Lammes. Jesus hat aus zweien eines
gemacht, alles, was Odem hat, lobt gemeinsam den
Herrn. Bereits das „Halleluja“ zum Schluss der
vierten Motette war ein zweifaches. Nun vollendet
sich mit einem zweifachen „Halleluja“ der Zyklus,
vierstimmig, wie ihn „Lobet den Herrn, alle Heiden“
eröffnet hat.
In der H-Moll-Messe setzt Bach beim „gloria in
excelsis deo“ und beim „et resurrexit“ mit dem
hohen H den höchsten Ton, den er je einer Chor-
stimme zuordnet. Das hohe B, in den 6 Motetten
nur im finalen Halleluja ein einziges Mal verlangt,
bleibt einen Halbton darunter. Höher als bis eine
Stufe vor den Thron Gottes geht´s halt nicht.