Komm Jesu, komm
Der Ruf Gottes in die Gottesferne wird nun mit einem
Gebet beantwortet. „Komm Jesu, komm!“ vertont als
einzige Motette keinen einzigen Bibelvers, auch die
Passage „Du bist der rechte Weg ...“ stellt kein Zitat
von Johannes 14,6 dar. Dieser Satz ist mit 89 Takten
die längste Textausweitung aller sechs Motetten und
zugleich in etwa das Zentrum.
„Komm Jesu, komm!“ ist ein Lebensübergabegebet.
Dem Eingeständnis der eigenen Kraftlosigkeit folgt
die Erkenntnis, auf dem sauren Weg zu sein, dann
die Zufluchtnahme zu Jesus, darauf das Bekenntnis,
schließlich in der Aria die Heilsgewissheit des Bekehrten.
Textzeilen wie „Mein Leib ist müde“ und „Eilt gleich mein
Lebenslauf zu Ende“ lassen an Todesnähe denken.
Dies ist jedoch unzutreffend. Wer die Situation des
Vor-Gott-Kapitulierens kennt, kann nachempfinden,
wie das Heraustreten aus dem unerlösten Leben
Sterbenscharakter annimmt. Die Textstelle aus der Aria
bedeutet in modernem Deutsch: „Ich gehöre der Welt
nicht länger an. Selbst wenn ich sterben müsste,
bin ich doch gewiss: Mein Geist stirbt nie.“
In dem Ruf „Komm Jesu, komm!“ klingt das Maranatha
(1. Korinther 16,22) an und mit ihm das Generalthema
des Zyklus: Gott kommt zum Ziel mit mir, mit Israel,
mit seiner Gemeinde. Die Vollendung der Neuen
Schöpfung ist das große Halleluja vor dem Thron Gottes
(Offenbarung 19).
Sicher hätte sich eine passende Strophe als Schluss-
choral finden lassen. Das Bekehrungsgebet ist jedoch
so privat, dass das gemeindlich-gottesdienstliche Umfeld
völlig ausgeblendet wird und an seine Stelle eine Aria tritt,
die jedoch eine ganz choralmäßige Wirkung hat.