Die Motetten
Johann Sebastian Bachs
Ein Traktat
v o n U l r i c h F e l d m a n n , H a n n o v e r
Die Entstehungsgeschichte der sechs großen Motetten
von Johann Sebastian Bach liegt weitgehend im Dunkeln.
Das Bach-Werke-Verzeichnis vermerkt zu „Lobet den Herrn,
alle Heiden“: „Entstehungszeit zwischen 1723 und 1734,
möglicherweise auch schon vor 1723.“ Bei „Singet dem
Herrn ein neues Lied“ heißt es: „Zwischen 1723 und 1734,
oder erst Ende 1745 bzw. Anfang 1746.“
Die unvergleichlichen Stücke decken somit die gesamte
Schaffenszeit des Meisters ab, und die Vergabe der Werk-
verzeichnisnummern scheint willkürlich erfolgt zu sein.
Die allerorten kolportierten Hinweise auf Gedächtnis-
gottesdienste vornehmer Verstorbener haben mit der
eigentlichen Bestimmung der Stücke nichts zu tun,
selbst wenn solche Anlässe im Einzelfall die Komposition
motiviert haben sollten.
Es liegt auf der Hand, dass die sechs Bach-Motetten
eine Einheit darstellen. Hierbei spielt es keine Rolle,
unter welchen Umständen, in welcher Reihenfolge,
und zu welcher Zeit die einzelnen Stücke entstanden sind
oder ob es weitere Stücke gibt, die derselben Gattung
zuzuordnen sind.
Die Zahl Sechs als Werk-Anzahl wird als vollkommene
Summe empfunden, weil die Erschaffung der Welt
Gottes Sechs-Tage-Werk ist.
Es entsteht kein Werk Nr. 7, weil Gott am siebenten Tag
nichts mehr geschaffen hat. Das Ruhen Gottes ist nicht
etwa ein Ausruhen, welches in Erschöpfung der Kraft
oder der Idee seine Ursache hat. Vielmehr ist es
die absolute Vollkommenheit der Schöpfung, die
den Schöpfer innehalten lässt. So begegnet die Sechszahl
(auch als Vielfache der 6) im Schaffen Bachs
überaus häufig.
Die Geschlossenheit der Sammlung ist eine zweifache.
Zum einen wird der Weg eines Menschen vom Zustand
der Verlorenheit über die Hinwendung zu Jesus Christus
zum Ewigen Leben nachgezeichnet.
Zum anderen geht es um die christliche Gemeinde als
Ganzes, ihren Prozess vom gottesfernen Heidentum
über das Werden von Gemeinde durch das Werk Jesu
und das Wirken des Heiligen Geistes bis hin zur
Integration des aufgepfropften Zweiges mit der Wurzel
Israel.
In seinen Oratorien und Kantaten setzt Bach gezielt
Choralstrophen ein, wann immer gemeindliche Reflexion
gewollt ist. Stets greift er auf tradierte, den Zuhörern
seiner Zeit vertraute Melodien zurück und erfindet grund-
sätzlich keine eigenen. In den Vokalwerken Bachs gilt
generell die Äquivalenz: Choral = Gemeinde.
So ist es in erster Linie die Behandlung des Chorals,
an der das den 6 Motetten innewohnende Prinzip auffällt
und wo die von mir vorgeschlagene Reihenfolge herrührt.
Zu den sonstigen formalen Merkmalen der Bachmotetten
will dieses Traktat nichts beitragen – es dürfte an anderen
Orten diesbezüglich alles gesagt sein.
Den geistlichen Leitfaden aufzuzeigen, möchte ich nicht
musikwissenschaftlich verstanden wissen, wohl aber
die Musikwissenschaft ermuntern, meine Beobachtung
in die Bewertung der Motetten Johann Sebastian Bachs
einzubringen.